Heute bekam ich eine Mail von XING. Ich hätte in meinem Profil angegeben, dass ich „an Karrierechancen interessiert“ sei. Deshalb hat man nun scheinbar einen Newsletter ins Leben gerufen, der mir wöchentlich die Jobangebote, die auf XING eingestellt und möglicherweise zu meinem Profil passen, per Mail zuschickt. Die Funktion „Job&Karriere“ auf der Website kennt inzwischen fast jeder XING-Nutzer und die meisten Junior Planner haben sich wahrscheinlich geschmeichelt gefühlt, als ihnen XING eine Position als Chefarzt zugeordnet und vorgeschlagen hat. Inzwischen funktioniert der Abgleich relativ gut, da XING ein großes Potenzial für die Vermittlungen von Jobs hat, ist sie auch absolut sinnvoll. Bitter war allerdings der Inhalt der heutigen Mail: Sie enthielt als Jobvorschlag keinen einzigen Job. Ich kriege also eine Mail eines neuen Jobempfehlungsservices, in der mir keine Jobs empfohlen werden. Das Vertrauen in einen solchen Service ist schon mit dem Erstkontakt zerstört.
Wie bereits in der Vergangenheit wurde mal wieder ein Feature auf einer Website eingeführt, ohne den Nutzer vorher zu fragen, ob er ihn wirklich nutzen möchte, und vor allem: Ohne ihn zu Ende zu denken.
Spezialist dafür ist facebook. Auch hier gibt es immer wieder Änderungen, die die Optik (Timeline), Funktion (Places), Menge (Öffnung der API) oder gar Privatsphäre betreffen. Über Nacht gibt es scheinbar aus heiterem Himmel neue Funktionen, die dazu führen sollen, dass der User die Plattform „besser“ nutzen kann. Frei nach dem Motto „Alles in die Cloud“. So kommt man mit dem Ausblenden gar nicht mehr hinterher. Und wenn dann noch elementare und wichtige Nachrichten aufgrund der Filter Bubble nicht erscheinen, dann frage ich mich, ob der ursprüngliche Mehrwert dieses Sozialen Netzwerks überhaupt noch gegeben ist.
Ich habe das Gefühl, dass facebook dabei niemandem zutraut, seine Daten trotz der widrigen Umstände und versteckten Einstellungen im Griff zu haben. Nachdem Google+ hinsichtlich Privatsphäre mit den Circles eine einfache und verständliche Variante vorgelegt hat, zieht facebook nun mit Listen nach. Man kann seine Freunde kategorisieren und dabei Sichtbarkeiten einzelner Gruppen individuell einstellen. So soll der Chef andere Dinge zu sehen bekommen als der beste Freund. Aber auch dieses Mal führt die dringend notwendige Einführung dieser Funktion eher zu Verwirrung als zu Erleichterung. Die Listen sind kaum auffindbar, die Änderungen werden nicht angekündigt und nicht umfangreich erklärt. Kleine Schrauben werden gedreht, statt vielleicht mal Nägel mit Köpfen zu machen und alles Bisherige zu hinterfragen. Es sieht nach Wegräumen eines Scherbenhaufens aus.
Mehr Optionen führen wie im Fall facebook auch zur Möglichkeit, Einstellungen falsch zu verstehen, weil sie schlecht beschrieben oder falsch übersetzt sind. Ich vertraue den Umstellungen nicht mehr, weil ich immernoch nicht herausgefunden habe, ob facebook eine Option bietet, Eventteilnahmen nur für einen Teil meiner Freunde sichtbar zu machen, oder Umfragen auszublenden oder zumindest meine Teilnahme daran zu verstecken. Entweder es gibt die Optionen nicht, oder ich finde sie nicht. Mein Vertrauen in die Einstellungsmöglichkeiten von facebook gehen daher gegen Null.
Eckart von Hirschhausen beschreibt die Überforderung durch zu viele Optionen anhand des Einkaufsverhaltens im Supermarkt: Zu viel Auswahl führt entweder zu einem schlechten Gefühl, hinsichtlich Preis/Leistung die falsche Entscheidung getroffen zu haben, oder es führt zu kompletter Ablehnung und Verweigerung. Weil man nicht weiß, welche Marmelade bei unterschiedlichen Gewichten und Preisen die vermeidlich günstigste ist, ob Fruchtstücke einen höheren Preis rechtfertigen, welche Marmelade gerade woanders im Angebot ist und ob es am Ende nicht besser ist, wenn ein Hauch Vanille dabei ist, kauft man am Ende Nutella. Darum vermittelt ein Discounter mit einer sehr reduzierten und dank Markenabstinenz nicht vergleichbaren Produktauswahl dem Einkäufer auch ein besseres Gefühl. Wer keine Wahl und keine Vergleichsmöglichkeit hat, der kann auch nicht viel falsch machen.
Dieser Aspekt wird bei immer mehr Services und Plattformen im Internet aufgrund eines scheinbar vorherrschenden Entwicklungsdrucks häufig missachtet. Zusätzliche Funktionen bieten nicht zwangsläufig ein besseres Gefühl. Ein Großteil der User hat möglicherweise keine Verwendung dafür. Ihm diese Optionen aufzudrängen macht wenig Sinn. So halten es leider auch PC-Hersteller. Jeder neuer Computer muss nach dem Kauf erst mal von lästiger vorinstallierter Share-/Demo-/Freeware bereinigt werden. Am besten spielt man gleich ein sauberes Betriebssystem darauf.
Selbst beim Mobiltelefon sind inzwischen Tools des Handyherstellers vorinstalliert. Wenn man die App Navi Telmap als kostenloses Feature dazubekommt, dann scheint das erst mal super, wenn man es aber nur als O2-Kunde nutzen kann, als Nicht-O2-Kunde aber nicht deinstallieren, dann fragt man sich wirklich, ob man als Kunde eigentlich noch ernst genommen wird. Auf Websites wird gerne die Möglichkeit eingeräumt, einen Artikel noch vor Lesen des ersten Satzes zu sharen, liken und senden. Wieso? Wer soll beurteilen können, ob der Artikel sich überhaupt dafür qualifiziert? Diese Buttons gehören da nicht hin.
Auch bei XING hat in den letzten Monaten einiges getan. Im Bereich Beta Labs werden den Usern neue Funktionen zur Verfügung gestellt, die potenziell eine Verbesserung der Usability mit sich bringen. Dass nur ein Teil meiner Kontakte diese Funktionen nutzen, kann ich genau sehen, denn ich werde über die Aktivitäten genauestens informiert. Und so muss ich erfahren, dass Person A für die Planung eines Lunchtermins nun nicht mehr ohne XING auskommen kann, dass Person B die Kompetenzen von Person C bewertet hat und Person D nun alle seine Twitter-Posts per RSS in den News Feed laufen lässt. Allesamt Informationen, die mir keinen Mehrwert bieten. Da ich kein Beta Labs User bin, hat ich auch keinerlei Interesse an den Nachrichten, die die Beta Labs Funktionen so ausspucken. Aber Ausblenden? Keine Chance. So werden die potenziell sinnvollen Funktionen zur Glücksnuss oder zum Social Reader von XING. Es nervt einfach nur noch, zum Glück legt sich die Aktivität doch immer recht schnell. Aber ist das wirklich gewollt? Ein kurzer Peak, weil wenige ausprobieren wollen und es viele verärgert und damit zu Passivität und Wegbleiben drängt? Es ist nicht zu Ende gedacht. In diesem Fall gibt es tatsächlich die nie für möglich geglaubte schlechte Publicity. Denn ich meide Plattformen inzwischen, die den Nutzen kaputtoptimiert haben, die mit jeder neuen Option eine Verschlimmbesserung herbeiführen. Und ich erzähle es gerne weiter, wie angenervt ich davon bin.
Zum Glück gibt es auch positive Beispiele. Google Mail hat zum Beispiel einen Labs-Bereich, in dem ich meine Basis-Variante um mögliche Erweiterungen ergänzen kann. App-Stores im Chrome oder auf Smartphones bieten heutzutage die Möglichkeit, sein Endgerät oder Programm zu individualisieren. So sollte es idealerweise laufen: Gebt den Usern ein Basispaket und überfrachtet es nicht mit Funktionen, die ein Großteil nicht braucht. Schafft Optionen, aber zwingt niemanden. Einige Websites müssen ihre Strategie nochmal dringend überdenken. Mehr ist häufig weniger. Unserem Leben könnte online und offline etwas Minimalismus gut tun.